Prüfungsunfähigkeit an deutschen Hochschulen oder An welche Hochschulen geht man besser nicht.
Wenn sich Studierende bei Prüfungen wegen gesundheitlicher oder ähnlicher kurzfristiger Geschehnisse abmelden/entschuldigen wollen, werden je nach Hochschule ganz unterschiedliche überwiegend nicht im Voraus ermittelbare Kriterien angewandt.
Dieser Artikel versucht einen kleinen Überblick über den Stand dieser überwiegend zu Lasten der Studierenden gehenden intransparenten Situation in Deutschland zu geben.
🏛️ Prüfungsunfähigkeit: Was ist das überhaupt?
Den Hochschulen werden in Deutschland sogenannte Selbstverwaltungsrechte eingeräumt. Das bedeutet, dass sie für sie selbst bestimmte Rechtsverhalte auch selbst regeln können; quasi eigene Gesetze für ihre eigenen Angelegenheiten.
Eine dieser Angelegenheiten ist, darüber zu entscheiden, ob ein Verhinderungsgrund bei der Teilnahme an einer Prüfung anerkannt wird oder nicht.
Es wird also entschieden, ob man verhindert genug war; also prüfungsunfähig oder nicht.
Die gefestigte Rechtsprechung hat anerkannt, dass den Hochschulen dieses Recht auch zusteht. Jede Hochschule hat dabei ihren eigenen nicht im Voraus ermittelbaren Regelsatz.
🏛️ Prüfungsunfähigkeit: Warum überhaupt?
Unser Grundgesetz sieht Chancengleichheit vor. Als Ausfluss dessen sollen auch alle Studierenden die gleichen Rechte haben. Damit fühlen sich die Hochschulen in der Pflicht sicherzustellen, dass Studierende bevor sie exmatrikuliert werden die gleiche Anzahl an Prüfungsversuchen (üblicherweise 3) zur Verfügung haben. Können sie ohne eigenes Verschulden nicht daran teilnehmen, gilt der Prüfungsversuch als nicht unternommen. Und irgendwer muss über dieses Verschulden entscheiden, so dass allen Studierenden die gleichen Chancen eingeräumt werden.
Nur am Rande sei angemerkt, dass auch die Anzahl möglicher Prüfungsversuche in der Selbstverwaltungsmöglichkeit der Hochschule steht. Es gibt Hochschulen da hat man maximal 3 Versuche bei anderen sind es 5 oder es gibt gar keine Begrenzung.
🏛️ Prüfungsunfähigkeit: Wer entscheidet das überhaupt?
Es gibt eigentlich bei jeder Hochschule ein Gremium, welches über die Prüfungsunfähigkeit entscheidet z.B. Prüfungsbehörde oder Prüfungsausschuss genannt.
Die Besetzung ist auch hier je nach Hochschule unterschiedlich. Es gibt durch die Hochschulleitung bestimmte Besetzungen, es gibt gewählte, manchmal muss immer auch eine medizinisch fachkundige Person dabei sein.
Unseren Recherchen nach haben diese Gremien jedoch Mitglieder, die diesen Arbeit neben ihren sonstigen Aufgaben mit erledigen. Also akademische Mitarbeiter, Professoren usw.
Also genau jene Personen, mit denen man im Studium in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis steht und Personen denen rechtliche oder medizinische Fachkenntnis üblicherweise fehlen.
🤦🏽 Krank sein bedeutet nicht Prüfungsunfähigkeit
Es obliegt der Hochschule zu entscheiden, ob man an einer Prüfung teilnehmen kann oder nicht. Eine ärztliche Fachperson kann dies nicht entscheiden. Beispiel:
Man studiert Sport und bricht sich das Bein. Dann kann die ärztliche Fachperson das feststellen und jemanden “krankschreiben”. Praktisch gesehen kann man zwar keine Prüfung im Weitsprung mehr ablegen, aber bestimmte mündliche Prüfungen werden sicherlich noch möglich sein. Eine ärztliche Fachperson kann eine solche Unterscheidung aber nicht treffen, da diese die konkrete Hochschule und deren Prüfungen nicht kennt.
So müssen also die häufig weder rechtlich noch medizinisch besonders gebildeten Personen der Hochschulgremien über die Prüfungsunfähigkeit entscheiden.
📝 Formulare: Symptome vs. Diagnose
Schaut man sich die Formulare von Hochschulen an, so wird man häufig den Versuch finden, einer ärztlichen Fachperson und den Studierenden klar zu machen, dass die Hochschule keine Diagnose der Krankheit benötigt, sondern nur eine Symptombeschreibung.
Häufig auch mit dem Hinweis diese Symptome doch bitte so zu beschreiben, dass diese durch medizinisch nicht gebildete Personen verständlich sind, was die bereits beschriebene fachlich fehlende Qualifikation der Entscheidenden nachweist. So soll eine ärztliche Fachperson also nicht schreiben, es wäre bei jemandem ein Genitalherpes diagnostiziert worden, sondern juckende, brennende Bläschen im Intimbereich.
😒 Beispiel: HS Mittweida
Diese Hochschule ist uns bereits aus unseren WLAN Studien bekannt. Sie meint andere WLAN Accesspoints auf ihrem Gelände jederzeit durch das aktive Aussenden von Störabstrahlungen unterdrücken zu können, damit die Bandbreite im Frequenzspektrum ausschließlich für die von der Hochschule betriebenen WLAN Geräte zur Verfügung steht.
Es verwunderte uns daher bei diesem zur Schau gestellten Grundrechtsverständnis nicht, dass die Hochschule vor kurzem die Art der Prüfungsunfähigkeit veränderte. Bisher hatte es gereicht einen so genannten gelben Schein (klassische Krankschreibung für Arbeitnehmer) der ärztlichen Fachperson zu liefern und dieser wurde anerkannt. Nun ist ein Formular von dieser Webseite auszufüllen.
Soweit uns bekannt ist der Hintergrund, dass die Krankschreibungen nun digital erfolgen. Warum dies die Hochschule aber dann so reagieren lässt war uns nicht ermittelbar. Wir können nur vermuten, dass die Kompetenzen zur Digitalisierung schlicht fehlen.
Zumindest war die Studierendenvertretung heroisch aktiv. Sie musste die Landesbeauftragte für den Datenschutz einschalten und diese intervenierte in einer Art, dass das Formular mehrfach überarbeitet worden musste, bis es der aktuellen Rechtsprechung genügte.
📝 Weitere bedenkliche Formularbeispiele
Aber auch die Formulare (und damit deren Rechtsexpertise) anderer Hochschulen stimmen uns bedenklich.
So will die Europa-Universität Flensburg, eine verpflichtende “freiwillige” Einwilligung in die Verarbeitung der Gesundheitsdaten, sonst wird die Prüfung als durchgefallen bewertet. Die Hochschule wählt hier eine komplett unangebrachte Rechtsgrundlage der DSGVO, obwohl eine andere sehr wohl existiert.
Die Katholische Hochschule für Sozialwesen fordert eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht. Ebenso TU Clausthal.
Die Universität Potsdam will neben der Entbindung von der Schweigepflicht auch noch zusätzlich die genaue Krankheit wissen.
💡 Es gibt auch Licht
Es gibt aber auch Hochschulen, die setzen die Prüfungsunfähigkeit mit der Arbeitsunfähigkeit gleich bzw. liefern konkrete zu beantwortende Fragen, die ohne Symptome oder Diagnose auskommen.
So der Umwelt-Campus, Uni Bielefeld und Uni Osnabrück.
Bei diesen Hochschulen agiert ein Prüfungsausschuss ausschließlich in seiner Funktion zur formalen Feststellung der Prüfungsunfähigkeit aufgrund der festgestellten Einschränkungen (nicht der Symptome!). Er benötigt kein besonders Fachwissen der dort handelnden Personen und dient auch dazu eventuell auftretenden Missbrauch (z.B. Gefälligkeitsatteste) zu erkennen.
📊 Datensparsamkeit im Rahmen der DSGVO
Soweit unsere Recherchen ergaben, ergingen alle Urteile im Bereich der Frage der Prüfungsunfähigkeit vor der DSGVO.
Die DSGVO erweitert in Art. 5 (c) jedoch das Konzept der Datenminimierung, wie es bereits im nationalen Vorgänger des BDSG definiert wurde. Beide besagten, dass für die Verarbeitung nur genau so viele Daten zu erheben sind wie benötigt werden. Die DSGVO nimmt nun jedoch noch eine Erweiterung vor und stellt auf die Zweckmäßigkeit der Erhebung ab. So beschreibt Erwägungsgrund 39 u.A. was damit gemeint ist: “Personenbezogene Daten sollten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann.”
Bisher scheint also kein Gericht jemals entschieden zu haben, ob die für die Bestimmung der Prüfungsunfähigkeit erhobenen Daten nach Art. 5 (c) minimal sind und es eine keine mit weniger Daten auskommende Alternative gibt.
Dieser Frage entzieht sich auch die LDA Sachsen, in dem sie ausschließlich auf das Vorhandensein einer Erhebungsmöglichkeit verweist. Ob diese nach Art. 5 (c) minimal und zweckmäßig sind, wird nicht beantwortet.
💪 Aus großer Kraft folgt große Verantwortung
Die Hochschulen dürfen mit ihren eigenen Ordnungen natürlich nicht gegen die übergeordnete Rechtslage verstoßen.
Auch lang gehegte Praktiken wie die Vergabepraxis beim Medizinstudium müssen erst bis nach ganz oben eingeklagt werden.
Ein Prüfungsausschuss kann sich auch nicht auf formale Probleme eines Attestes berufen, wenn er diese nicht sofort bemängelt. Wenn sich aus dem Attest durch den Prüfungsausschuss die Prüfungsunfähigkeit nicht ermitteln lässt, z.B. weil es zu unkonkret beschrieben ist, so muss dies unverzüglich bemängelt werden, sonst kann man sich als Ablehnungsgrund darauf nicht berufen. Sich wie die TH Wildau für Entscheidungen bis zu 21 Kalendertage Zeit lassen (RO §22 (2)) und dann deswegen abzulehnen, weil etwas nicht leserlich ist, dürfte daher regelmäßig rechtswidrig sein.
Man kann erkennen, dass das praktische Rechtswissen an Hochschulen teilweise schlicht fehlt. Die Gründe liegen auch im Konzept der Selbstverwaltung, wie es an den Hochschulen praktiziert wird. Dort wird das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltentrennung aufgeweicht, da Hochschulgremien sowohl Gesetzgeber als auch Richter und Vollstrecker sind.
Die Folge ist, dass die Schwächsten in der Kette, also die Studierenden, gezwungen sind zu klagen. Wohl erstmalig in ihrem Leben. Ohne viel Geld. Im vorhandenen Abhängigkeitsverhältnis zur Hochschule, die durch eine Exmatrikulation jederzeit entscheiden kann, dass man diesen Studiengang an keiner anderen Hochschule in Deutschland mehr studieren darf.
🔨 Die Hochschulen sind in der Pflicht; im Eigennutz
Wenn eine Hochschule möglichst kleinteilig selbst auf Basis von Symptomen entscheiden will wann jemand prüfungsunfähig ist, so muss sie selbst auch die dafür notwendigen fachlichen Kompetenzen und zeitlichen Ressourcen bereithalten und im Zweifelsfall auch gerichtlich prüfen lassen.
So müsste ein Prüfungsausschuss auch die praktischen Aspekte der Durchführung der fraglichen Prüfungen kennen, um einschätzen zu können, ob man daran hätte teilnehmen können. Ebenso muss sie sich die Frage der Verhältnismäßigkeit gefallen lassen, wenn andere Hochschulen das offensichtlich ganz anders handhaben.
Viel einfacher ist doch ein A4 Papier zum ankreuzen. Ähnlich wie bei den zuvor genannten positiven Beispiele. Dafür bedarf es nicht der Niederschrift der Symptome, sondern ausschließlich der einmaligen Ansammlung der Anforderungen, die Prüfungen an dieser Hochschule haben. Wir wagen die These, dass sich das an den Hochschulen nicht sonderlich stark unterscheiden wird.
Beispielhaft für eine solche Kreuzchenfrage wäre: Ob die Person 90 Minuten lang ohne Einschränkungen sitzen kann, und nicht die Frage nach juckenden und brennenden Bläschen im Intimbereich.
⁉ Tipps für Studierende
Wenn angehende Studierende sich für eine Hochschule entscheiden, raten wir sich die Kriterien für eine Prüfungsabmeldung genau anzuschauen. Viel darüber wie man dann im Studium behandelt wird lässt sich daraus ablesen. Je weniger der Vorwurf eines Betruges daraus ablesbar ist, desto besser. Je transparenter Entscheidungskriterien daraus hervorgehen desto besser.
Wir raten auch zur Klage gegen die Ablehnung einer Prüfungsabmeldung, wenn es sich um die erste handelt und man der Meinung ist diese wäre ungerechtfertigt. Wird diese nämlich unwiderruflich rechtskräftig, ist die Uhr um eins heruntergezählt. Im Zweifelsfall fehlt dann beim letzten Mal genau dieser eine Versuch, der vor einer Exmatrikulation bewahrt hätte.
Eine starke Studierendenvertretung ist ein gutes Mittel gegen Rechtsmissbrauch durch die übermächtige Hochschule. Arbeitet man dort mit kann man aktiv Veränderungen bewirken, da nur so der Hochschule überhaupt die andere Seite erkennbar gemacht werden kann. Ja das macht Arbeit.
🏁 Fazit
Hochschulen sind gegenüber Studierenden im Prüfungsrecht im Vorteil, da sie Gesetzgeber, Richter und vollstreckende in einer Person sind. Nicht immer haben Hochschulen die fachlichen Kompetenzen, die für einen Interessenausgleich der Parteien erforderlich sind.
Die Hochschulen stehen jedoch in Konkurrenz zueinander. Studierende sollten Hochschulen wählen, die Prüfungsabmeldungen möglichst transparent und unkompliziert machen.
Untersuchte Urteile
Bundesverwaltungsgericht Beschl. v. 14.11.2022, Az.: BVerwG 6 B 14.22
Bundesverwaltungsgericht Beschl. v. 27.09.2022, Az.: BVerwG 6 B 20.22
Bundesverwaltungsgericht Urt. v. 24.02.2021, Az.: BVerwG 6 C 1.20
Bundesverwaltungsgericht Beschl. v. 06.08.2020, Az.: BVerwG 6 B 11.20
Bundesverfassungsgericht Beschl. v. 11.03.2020, Az.: 1 BvR 2434/19
Bundesverwaltungsgericht Beschl. v. 02.01.2020, Az.: BVerwG 6 B 63.19
Bundesverwaltungsgericht Beschl. v. 25.01.2018, Az.: BVerwG 6 B 36.17
VG Würzburg, Beschluss v. 24.01.2018 – W 2 E 17.1376
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.07.2014 - OVG 10 S 5.14
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.11.2014 - 14 A 884/14
Hessischer VGH, Beschluss vom 10.07.1989 - 6 TP 1542/89
Bundesverwaltungsgericht Beschl. v. 22.06.1993, Az.: BVerwG 6 B 9/93
Update Historie
17.07.23: Untersuchte Urteile als Quellen hinzugefügt, Erstmaligkeit von Artikel 5 DSGVO korrigiert und mit dem BDSG in Verbindung gesetzt (Vielen Dank an die Leserbriefe)